Religion & Ethik | 15 22. April 2004 |
Jüdische Allgemeine Nr. 16/04
von Sara Yoheved Rigler
Gottes besonderer Ort
Warum Israel kein Land wie jedes andere ist!
Ich habe ein Geständnis zu machen: Ich liebe das Land Israel. Nach
fast achtzehn
Jahren hier, nach Intifada und Golfkrieg, nach all den Höhen und Tiefen
der turbulenten
israelischen Wirtschaftsentwicklung und nach zweieinhalb Jahren Terror
empfinde
ich zwar Furcht und Trauer, aber an meiner tiefen Liebe zu diesem Land
hat sich nichts geändert.
Weshalb liebe ich Israel so sehr? Weil ich an vielen heiligen Stätten
der Welt gewesen
bin. Ich habe in Varanasi meditiert und bin in die heiligen Wasser des
Ganges
eingetaucht. Ich war im Vatikan und habe den buddhistischen Stupa in Sarnath
umrundet
und im Wasser von Lourdes gebadet. Ich bin in den französischen Alpen
durch tiefen Schnee zum Heiligtum der Weinenden Madonna gestapft und habe
ferne Aschrams im Himalaja besucht. An all diesen Orten empfand ich Begeisterung.
Aber einzig in Israel fühle ich die
greifbare Gegenwart Gottes, wenn ich nach einem Parkplatz suche, wenn ich
Abendessen koche, wenn ich Wäsche aufhänge, wenn ich im Stau stehe,
wenn ich mich frage, wie ich meine Telefonrechnung bezahlen soll.
Das dürfte kaum überraschend sein. In der Tora hat Gott ausdrücklich
versprochen, daß er den Kontakt zum Land Israel und seinen Bewohnern
niemals unterbrechen wird. „Ein Land, für das der Ewige, dein Gott,
sorgt; ständig sind die Augen des Ewigen, deines Gottes, darauf gerichtet,
vom Anfang des Jahres bis zum Ende des Jahres“ (5. Moses 11, 12). Die meisten
meiner Freunde hier in Jerusalem können zahllose Geschichten davon erzählen,
wie die ständige, direkte göttliche Gegenwart (Haschgacha pratit)
in ihr Leben hineinspielt. Hier ein paar von meinen eigenen:
Als mein Mann - er ist Musiker – und ich Alija machten, durften Einwanderer
von Gesetzes wegen eine bestimmte, recht große Menge Gepäck zollfrei
einführen. Das bedeutete für uns, daß wir ohne den üblichen
Zoll von hundert Prozent alles Mögliche, zum Beispiel Haushaltsgeräte,
mitbringen durften. Eine Gelegenheit, die man sich natürlich nicht entgehen
läßt. In unserer dritten und letzten erlaubten Gepäckladung
hatten wir eine Mikrowelle, einen Trockner, einen selbstreinigenden Herd
und alles Mögliche dabei, wovon wir dachten, daß wir es für
den Rest unseres Lebens brauchen würden. Als wir dann wieder in Israel
waren, rechneten wir aus, was die Sachen zusammen mit den Frachtkosten und
der Versicherung wert waren; wir kamen auf knapp zweitausendeinhundert Dollar.
Ich betete zu Gott, daß wir das alles würden bezahlen können.
Schließlich hatten wir die Anschaffungen für unser
künftiges Leben in Israel gemacht. Ein paar Tage später hatten
wir Post von der American Federation of Musicians, der mein Mann früher
angehört hatte. Der Computerausdruck informierte uns darüber, daß
die Wiederaufführungen aus der Fernsehshow Face the Music, an der er
einige Jahre zuvor mitgearbeitet hatte, an das Christian Broadcasting Network
veräußert worden waren. Es lag ein Scheck über zweitausendeinhundert
Dollar bei.
Eine andere Geschichte: In Israel ist Wohnraum sehr knapp. Als wir also
vor vierzehn Jahren in unsere Wohnung einzogen, war ich froh, daß ich
zwei Wäschekörbe fand, die genau in den engen Raum zwischen Schlaf-
und Badezimmer paßten, wo die Waschmaschine stand. Nach vielen Jahren
ging einer der beiden Plastikkörbe schließlich kaputt, während
der andere noch einwandfrei war. Eines Tages sah ich mir den kaputten Wäschekorb
an und sagte mir: „Es paßt nicht zum Glanz Jerusalems, kaputte Sachen
in der Wohnung zu haben.“ Aber wo sollte ich Ersatz herbekommen? Ganz sicher
gab es gerade diese genau passenden Körbe nicht mehr. Nicht einmal das
Geschäft, in dem ich sie gekauft hatte, gab es noch. Und wie sollte
ich
zwei Körbe finden, die genau an diese Stelle paßten? Am nächsten
Tag hatte ich nach der Arbeit im Garten zwei Schachteln Abfälle, die
ich loswerden mußte. In der Altstadt von Jerusalem deponieren wir unseren
Müll in geschlossenen Räumen, je einer für mehrere Familien.
Ich war mehrere Wochen nicht in diesem Raum gewesen, weil mein Mann den Müll
mit hinausnimmt. Als ich die Tür öffnete, traute ich meinen Augen
nicht: Da stand ein Korb, genau wie mein kaputter, und er war tadellos. Will
ich damit nun sagen, daß der allmächtige Gott des Himmels und
der Erde sich um meine Geldsorgen und Wäschekörbe
kümmert? Ja, ganz genau! Das ist das Wunderbare im Land Israel: Uneingeschränkte
Beteiligung. Dauernde, unmittelbare, in kleinste Einzelheiten gehende göttliche
Aufsicht. Unermüdliche Nähe des Unendlichen. Kein Wunder, daß
das Leben hier schwierig ist.
Gott liebt das Land Israel mehr als die eifrigsten Zionisten. Und woher
weiß ich das? Er sagt es selbst in seinem Buch. Immer wieder sagt er
es. Keine Broschüre des Tourismusministeriums könnte eine bessere
Werbung für Israel sein als die Tora. Nach der Tora ist Israel nicht
einfach eine wundervolle Weltgegend für einen Besuch oder, um dort zu
leben. Israel ist vielmehr ein Stück Erde, das unlösbar mit der
Seele des jüdischen Volkes verbunden ist. Gottes allererste Erklärung
an den ersten Juden, Abraham, ist das Gebot, nach
Israel zu ziehen: „Zieh aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und
vom Haus deines Vaters nach dem Land, das ich dir zeigen werde“ (1. Moses
12, 1). Das hebräische Wort für ziehen oder gehen - „lech“ - ist
gefolgt vom Wort „lecha“, was so viel heißt wie: „zu dir selbst“. Der
klassischen Bibelkommentator Or HaChaim versichert, daß, wer ins Land
Israel zieht, zugleich zu sich selbst, zu seinem wahren, tiefsten Selbst
geht.
Im Bund Gottes mit Abraham, Isaak und Jakob wurde deren Nachkommen zweierlei
versprochen: Die Ewigkeit des jüdischen Volkes und des Landes Israel.
Bei Gottes erster Offenbarung an Moses aus dem brennenden Dornbusch erklärt
er, daß er um das Leid des Volkes Israel in der ägyptischen Gefangenschaft
wisse, und er eröffnet Moses seinen Rettungsplan: “So bin ich herabgestiegen,
es zu erretten aus der Gewalt Mizrajims, und es hinaufzuführen aus jenem
Land in ein schönes und geräumiges Land, in ein Land, das von
Milch und Honig fließt ...“ (2. Moses 3, 8).
Der Exodus ging nicht nur aus der Sklaverei in die Freiheit, sondern auch
von einem
Ort namens Ägypten an einen Ort, der später den Namen Israel
erhalten sollte. Nach Israel zu gelangen, das war ein wesentlicher Teil der
Erlösung. Ein Volk, das in eine besondere Beziehung zu Gott eingetreten
und Zeuge von Wundern geworden war, ein Volk, dem die Tora geschenkt wurde,
konnte nur an diesem ganz besonderen Ort, im Land Israel, wohnen.
Das Judentum ist die einzige Religion der Welt, die an ein bestimmtes Land
gebunden ist. Andere Religionen haben heilige Stätten, Flüsse
und Quellen, aber nur für das Judentum ist jeder Zoll von Israel in
den biblischen Grenzen heilig. Das hat enorme praktische Auswirkungen für
das Judentum. So gelten zum Beispiel alle landwirtschaftlichen Mizwot, wie
zum Beispiel die Gebote, den Zehnten abzuführen und das Land alle sieben
Jahre ruhen
zu lassen, nur im Land Israel. Wie Rebbezin Tziporah Heller gern sagt:
„Eine Tomate,
die im Land Israel wächst, ist heiliger als das Manna, das in der
Wüste vom
Himmel regnete.“ Weshalb? Weil für diese Tomate die Mizwot gelten.
Und die Mizwot
sind die direkten Verbindungen eines Juden zu Gott.
Bei der Gabe vieler Mizwot in der Tora sagt Gott zunächst: „Wenn ihr
in das Land
kommt.“ Nachmanides, der große Weise aus dem dreizehnten Jahrhundert,
vertrat
die Auffassung, die Mizwot der Tora könnten überhaupt nur im
Land Israel angemessen
erfüllt werden. Die Erfüllung der Mizwot außerhalb des
Landes, so schrieb er, hält bloß in Übung, so daß das
jüdische Volk bei seiner Rückkehr in das Land weiß, was es
zu tun hat.
Der Kusari beschreibt Gottes Plan, das jüdische Volk zu einem „Königreich
von Priestern und zu einer heiligen Nation“ zu machen, nach der Art, wie
ein Weinberg angelegt wird. Ein Weinberg braucht vier Dinge: Reben, Land,
Sonne und Regen. Der Kusari erklärt, daß die Reben das jüdische
Volk sind, das Land ist das Land Israel, die Sonne ist die Göttliche
Vorsehung, und der Regen ist die Tora.
Schon der Boden Israels besitzt eine gewisse spirituelle Lebenskraft. Viele
Juden
aus der Diaspora fühlen ihre Seele erwachen, wenn sie nach Israel
kommen, wenn
sie nach Jerusalem oder an die Westmauer kommen. Die Mauer am Fuß
des Tempelberges
ist der Überrest des Zweiten Tempels und ist völlig frei von
spirituellen Reizen.
Keine Fresken, kein Weihrauch, keine Musik, keine einschüchternde
Architektur.
Aber die Schechina, die Gegenwart Gottes, ist hier dennoch so greifbar,
daß die allermeisten
Menschen sie empfinden.
Die Tora erzählt, wie die Israeliten im zweiten Jahr nach dem Auszug
aus Ägypten
an die Grenzen des Gelobten Landes kamen. Zehn der zwölf ausgesandten
Kundschafter berichteten negativ, und das Volk weigerte sich, Alija zu
machen. Die
Weisen sagen, daß diese Sünde, die Ablehnung des Landes Israels,
in bestimmter
Weise schlimmer war als die Anbetung des Goldenen Kalbes. Nach dem Zwischenfall
mit dem Goldenen Kalb ging Moses zurück zum Gipfel des Berges Sinai
und
bat um Gottes Vergebung, die auch gewährt wurde. Die Sünde der
Ablehnung
des Landes Israel indes ist uns nie vergeben worden.
Beim Land Israel geht es nicht um Nationalismus. Das Ziel, aus Israel „ein
Land
wie alle anderen“ zu machen, verletzt dessen Wesen selbst. Der wahre Schatz
Israels
ist seine einzigartige jüdische Identität, seine spirituelle
Kraft, seine Heiligkeit.
Beim Land Israel geht es nicht um eine Zuflucht vor dem Antisemitismus.
Dieses
Ziel hat sich ins Gegenteil verkehrt. Israel ist heute das einzige Land
der Welt, in dem
viele Juden umgebracht werden, weil sie Juden sind.
Beim Land Israel geht es nicht um Selbstbestimmung. Ja, Israel hat einen
jüdischen
Präsidenten, einen jüdischen Regierungschef, jüdische Parlamentarier,
Bürgermeister
und Verwaltungsbeamte. Israel hat auch jüdische Kriminelle und jüdische
Drogenabhängige.
Das Land Israel ist der Ort, den Gott für sein Rendezvous mit dem
jüdischen Volk
vorgesehen hat. Wie können wir diese Chance verschmähen?
“Das Judentum ist die einzige Religion der Welt, die an ein bestimmtes
Land
gebunden ist.“
Abdruck mit freundlicher Genehmigung
von Aish HaTorah, Jerusalem/Israel
www.aish.com