Das Geheimnis des Ölbaums


Das von Paulus in Römer 11,17-24 beschriebene Gleichnis vom Ölbaum widerspricht dem Naturgesetz. Gott nannte sein Volk Israel einen „immergrünen
Ölbaum im Schmuck herr­licher Früchte" (Jeremia 11,16). Diese Bezeichnung wird von Paulus als Anknüp­fungspunkt für seine Metapher in Römer 11,16 übernommen.

Paulus spricht hier vom Ein­pfropfen wilder Ölbaumzweige in einen edlen Ölbaum. Das aber ist bio­logisch absurd, denn zur Veredelung eines unfruchtbaren Baumes werden nicht wilde Zweige, sondern Zweige von einem fruchtbaren Baum in den unfruchtbaren Baum gepfropft. Paulus jedoch schreibt das Gegenteil und stellt damit die Natur auf den Kopf. Er will damit Gottes außergewöhnliches bzw. widernatürliches Eingreifen zur Erret­tung der Nichtjuden darstellen, die im Widerspruch zur exklusiven Erwählung des jüdischen Volkes, dem auserwählten Volk am segula steht.

Entscheidend für die Fruchtbarma­chung des unfruchtbaren Ölbaums sind jedoch nicht die Zweige, sondern seine Wurzeln, die durch das Hineinpfropfen fruchtbarer Zweige in den Stamm neu aktiviert und damit fruchtbar gemacht werden. Das bedeutet, dass Israel als Wurzel immer intakt war, auch wenn der Baum zeitweise keine Früchte trug.

Dass Paulus jedoch von aufgepfropf­ten Wildlingen spricht, entspricht nicht den naturgegebenen Gesetzen, sondern damit will Paulus deutlich machen, dass die, die vorher nicht Gottes Volk waren, nun Sein Volk sind, wie Paulus es in Römer 9,25 schreibt: „Ich werde das, was nicht mein Volk war, mein Volk nennen. (...) und wo zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, dort werden sie Söhne des lebendigen Gottes heißen." (siehe auch Hosea 2,1)

Paulus wollte durch die bildliche Umkehrung des Naturgesetzes Gottes Heilsplan illustrieren. Als Paulus fragt: „Hat Gott sein Volk verstoßen?" ant­wortet er „Nein" (Röm. 11,1) und fügt hinzu: „Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen (ins Verder­ben fallen) sollten? Keineswegs! Viel­mehr ist infolge ihrer Verfehlung das Heil den Heiden zuteil geworden" (Röm. 11,11). Weil seit Christus das Heil den Nichtjuden zufiel, wurden die, die vorher nicht sein Volk waren, nun Gottes Volk und erfüllen als ursprüng­lich wilde Zweige damit die Aufgabe der fruchtbaren Zweige, um den um ihretwillen unfruchtbar gewor­denen Ölbaum (Israel) wieder frucht­bar zu machen.

Die Umkehrung des Naturgesetzes ist jedoch zeitlich limitiert, bis alle wilden Zweige, d.h. bis der letzte aus den Nationen (Heiden bzw. Nichtjuden) in den originalen Ölbaum eingepfropft worden ist (Röm. 11,25-26). Weil es nur auf die Wurzel ankommt, warnt Paulus, dass sich die einge­pfropften Zweige, nur weil sie derzeit fruchtbare Zweige sind, nicht über das Volk Israel erheben dürfen, denn Gott wird sie — sollten sie keine Frucht bringen - ebenso herausreißen, wie er es mit den originalen Zweigen getan hat, denn nicht sie als Zweige tragen die Wurzel, sondern die Wurzel trägt sie.

Damit will Paulus sagen, dass das Mysterium des Ölbaums nicht in den Zweigen, sondern in der Wurzel liegt. Und die Wurzel ist nach wie vor die ursprüngliche und immerwährende Auserwählung Israels, die Juden wie auch Christen trägt. Damit ist auch jede Auslegung, dass die zum Glauben an Jesus gekommenen Nichtjuden in Wahrheit „verwilderte Judenzweige" sind ein Irrtum, denn durch die Umkehr des Naturgesetzes hat Gott das Heil jenen zuteil werden lassen, die vorher nicht sein Volk waren. Um dies deutlich zu machen, veränderte Paulus bildlich das Naturgesetz.



Ludwig Schneider

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